„Lebbe geht weider!“

Anika, 63, ist ein Frankfurter Gewächs, lebt aber inzwischen in Hanau, wo sie die Trans*beratung der Aidshilfe koordiniert. Dass sie positiv ist, erfuhr sie erst Jahre, nachdem sie sich infiziert hatte. Der Einschlag des, wie sie es nennt, „Kollegen HIV“ bedeutete für sie einen Neustart im doppelten Sinn. Direkt nachdem sie das Virus in den Griff bekommen hatte, nahm sie ihre Transition in Angriff. Heute hält sie es mit den Worten des früheren Eintracht-Trainers Dragoslav Stepanovic: „Lebbe geht weider!“

Eine Person mit ganz kurzen grauen Haaren und violetter Lederjacke sitzt mit einem Kaffee am Gartentisch und lächelt in die Kamera.

Anika, warum wolltest Du 2022 bei der Kampagne dabei sein?

Ich wollte dem Themenkomplex trans* und HIV ein Gesicht zu geben. Bei mir sind diese beiden Bereiche ein Paket, das gibt es ja nicht so häufig. Außerdem waren Trans*-Leute in den Kampagnen der Aidshilfe bis jetzt generell nicht besonders sichtbar. Ich will dazu beizutragen, das zu ändern. Als ich meinem Hausarzt, der mich nach der HIV-Diagnose hochgepäppelt hat, erzählt habe, dass ich bei der Kampagne mitmache, sagte er: „Super, toll, es bräuchte viel mehr Menschen, die das machen.“ Das hat mich noch mal bestärkt. Es gibt ja auch ein paar Besonderheiten im Bereich trans* und HIV, angefangen bei der Grundsatzfrage, ob sich eine Transition und eine HIV-Infektion überhaupt vereinbaren lassen. Mir selbst war das vor meiner Transition jedenfalls nicht klar. Da musste erst mein Doktor kommen und sagen: „Mach dir keinen Kopf, ich bin bei dir.“ Dann haben wir das zusammen durchgezogen.

Der Entschluss zur Transition und deine positive HIV-Diagnose fielen bei dir mehr oder weniger zusammen. Kannst du erzählen, wie es dazu kam?

Ich erzähle mal die Kurzform: 2012 ging es mir gesundheitlich total schlecht. Als ich untersucht wurde, kam heraus, dass ich HIV-positiv bin. Der Arzt meinte, ich hätte das Virus schon lange in mir gehabt. Die Diagnose hat mich nicht todtraurig gemacht, ich wusste schon, dass ein Leben mit HIV möglich ist. Das Problem war allerdings, dass das Virus schon sämtliche Abwehrsysteme in meinem Körper kaputtgemacht hatte. Kurz nach der Diagnose hat eine Lungenentzündung mich total niedergestreckt. Danach lag ich vierzehn Tage halbtot auf der Intensivstation, dann noch mal vier Wochen auf der normalen Station. Ich musste komplett wieder hochgepäppelt werden, neu gehen lernen, völlig von vorne anfangen.

Was hat dir Kraft für diesen Neuanfang gegeben?

In der Notaufnahme meinte der Arzt „Wenn ich Ihre Symptome gehabt hätte, würde ich jetzt nicht mehr hier stehen.“ Er sagte, mein Herzschlag hätte mich gerettet. Der Herzrhythmus. Der hat ganz heftig getackert. Das passt. Denn einerseits war ich in dieser Krankenhauszeit in einem völligen Dämmerzustand, aber gleichzeitig verfestigte sich bei mir der Gedanke, dass ich leben und meinen Weg als Frau zu Ende gehen will. Das musste ich machen, und wenn’s nur für sechs Wochen gewesen wäre. Es war mein Antrieb nicht aufzugeben.

War die Transition schon vorher dein Ziel gewesen?

Der Gedanke war zu dem Zeitpunkt noch relativ neu. Wenn ich mit heutigem Wissen zurückblicke, würde ich zwar sagen, ich war ein typisches Trans*kind, aber ich bin halt Jahrgang ‘59. In dem Frankfurter Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, wusste niemand, dass es sowas wie Trans* überhaupt gibt. Da wurde nur gesehen, dass ich zu sehr meinen eigenen Kopf hatte und mir im Werkunterricht mit dem Hammer auf den Daumen geklopft habe, weil ich nicht werkeln wollte und lieber mit den Mädchen Topflappen gehäkelt hätte. Wegen solcher Sachen galt ich irgendwann als schwer erziehbar und wurde ins Heim gesteckt.

Wie ging es unter diesen Bedingungen weiter?

Ab der Jugend war mein Leben ein ewiges Auf und Ab. Als Jugendlicher war ich als Straßenkind unterwegs, viel später in geordneten Bahnen als Lokführer angestellt und mit einer Frau verheiratet, aber Anfang der Neunziger scheiterte die Ehe. Dann wurde ich krankheitsbedingt „betriebsdienstuntauglich“ geschrieben. Das hatte aber noch nichts mit HIV zu tun. Ich ging für eine Weile nach Köln und arbeitete als Musikjournalist, gleichzeitig zog es mich regelmäßig in die Berliner Technoszene. Letztendlich landete ich wieder in Frankfurt, jobbte mal hier, mal dort, hatte aber nie einen richtigen Plan. Was sich allerdings durchzog, war, dass ich immer wieder Freunde hatte, die mich wie ein Porzellanpüppchen behandelten und zu mir sagten „Bei dir ist irgendwas anders“. Dieser Satz kam von unterschiedlichen Seiten – von meinem frühen besten Freund, bei dem ich mich wohl auch mit HIV infiziert habe, aber auch von späteren Bekannten.

Und was meinten sie?

Das hab ich selbst lange nicht richtig kapiert. Bis mir Anfang der 2010er ein guter Bekannter die Augen geöffnet hat. Der hatte einige Trans*-Mädels um sich geschart und kannte sich aus. Er empfahl mir eine Psychotherapeutin, die mit Trans* arbeitete. Das war das erste Mal, dass ich mitbekam, dass es sowas wie Transitionen gibt. Für mich eine ganz neue Welt. Aber bevor ich sie mir näher angucken konnte, schlug erst mal der Kollege HIV zu. Das hieß sechs Wochen Krankenhaus und anschließend Reha.

In der Reha hast du erfahren, was es heißt, wegen HIV diskriminiert zu werden. Erzählst du uns, was damals passiert ist?

In der Reha-Klinik bekamen die Patient*innen Tische mit festen Plätzen zugewiesen, an denen sie immer zum Essen sitzen mussten. Als ich zu meinem Platz kam, stand da neben meinem Namen ein fettes Zusatzschild „HIV!“. Mit Ausrufezeichen. Das war offenbar vom Personal dort hingestellt worden. Wozu, ist mir bis heute nicht ganz klar. Damals dachte ich nur, ich gucke nicht richtig.

Und wie hast du reagiert?

Ich hab das Schild genommen, bin zur erstbesten Klinikangestellten gegangen, die mir in den Weg gehüpft ist, und hab gefragt, was das soll. Sie meinte nur „Weiß ich nicht. Ich mach hier nur die Küche.“ Also bin ich weiter zum Empfang und hab dort gesagt, dass ich mich bei der Klinikleitung beschweren will. Ich wurde zum Sekretariat hochgeschickt. Der Leitung hab ich gesagt: „So geht das nicht, das ist voll daneben.“ Sie hat sich dann auch vielmals entschuldigt und damit war die Kiste durch. Danach kam das Thema HIV in der Reha nicht mehr vor, außer wenn ich es selbst ansprach. Auch nicht bei den Behandlungen.

Gehst du immer so furchtlos vor, wenn du Diskriminierung erlebst?

Was soll ich denn sonst machen? In einer Praxis wurde mein Termin mal von zehn Uhr auf halb eins geschoben, also auf den letzten Termin vor der Mittagspause. Obwohl ich schon da war! Zuerst hab ich mich erst aufgeregt. Beim Folgetermin habe ich der Sprechstundenhilfe ein Infoblatt der Aidshilfe in die Hand gedrückt und ihr geraten, sie solle sich mal über den neuesten Stand der HIV-Forschung informieren.

Wie hat sie reagiert?

Sie hat sich entschuldigt und meinte: „Ja, wir wissen das eigentlich auch, aber wir haben unsere Vorschriften.“ Also hab ich gesagt: „Das mag ja sein, aber lesen Sie mal.“ Das ist so meine Art, die Leute aufzuklären. Fehler benennen und, wenn möglich, Informationen zur Verfügung zu stellen. Als der Assistenzarzt bei meiner Transition 2019 laut durch den OP gerufen hat „Bitte doppelte Handschuhe anziehen“, hab ich auch gesagt, dass es dafür keinen Grund gibt, weil ich zu dem Zeitpunkt längst unter der Nachweisgrenze war. (HIV war im Blut aufgrund der Therapie nicht mehr nachweisbar, daher auch nicht mehr übertragbar, Anm. d. Red.)

Spielte dein HIV-Status für den Prozess der Transition eine Rolle?

Für mich persönlich schon, sonst eigentlich nicht. Ich wurde da sehr gut von meinem Arzt betreut. Mit dem hab ich viel geredet, und er sagte, normalerweise stehedem nichts entgegen. Ich hab ihn dann immer erinnert, dass er aufpassen und Bescheid sagen soll, wenn mein Körper anfängt zu rebellieren. In ihren Blutbildern sehen die Ärzt*innen sowas ja meist viel früher als es die Patient*innen merken. Wenn irgendwas gewesen wäre, hätte ich lieber auf die Bremse getreten. Wegen Komplikationen nach der Transition dauerhaft ans Krankenbett gefesselt zu sein, wäre mein größter Albtraum gewesen. Aber der Doktor beruhigte mich immer. „Alles wie neu“ ist heute noch sein Kommentar, wenn wir meine Werte besprechen.

Erlebst du Mehrfachdiskriminierungen, weil du eine HIV-positive UND trans* bist?

Nein, wenn ich diskriminiert werde, wird meist gegen mein Trans*sein zu Felde gezogen. Diskriminierung wegen HIV bekomme ich eigentlich nur noch in verdeckter Form mit. Wenn wir zum Beispiel am Welt-Aids-Tag rote Schleifchen verteilen, merkt man, wie sich Leute distanzieren und mit dem Thema nichts zu tun haben wollen. Eine Kollegin nimmt manchmal ihr Privatauto, wenn sie Hausbesuche macht, weil das Aidshilfe-Auto in einigen Gegenden Misstrauen und Aufsehen erregen würde. Manche Leute, die zur Trans*beratung kommen, haben auch Hemmschwellen haben, weil wir in den Räumen der Aidshilfe sitzen. Aidshilfe verbinden viele immer noch mit kranken Menschen und den schockierenden Bildern aus den Achtzigern und Neunzigern.

Wie brichst du das Eis?

Mit Kaffee und Kuchen.

Ist die die Trans*beratung bei der Aidshilfe trotzdem gut aufgehoben?

Ja, schon. Die Aidshilfen gehören zu den ersten Institutionen, wo gleichgeschlechtliche Liebe und alternative Lebensentwürfe nicht verteufelt, sondern als Selbstverständlichkeit behandelt wurden. Dort galt von Anfang an der Grundsatz, dass alle, egal wer, kommen können, und zumindest der Versuch unternommen wird, ihnen zu helfen. Da wurde sehr gute Arbeit geleistet und ein breites und diverses Netzwerk aufgebaut. Deshalb können wir heute auch Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen helfen, und sei es nur dadurch, dass wir sie weiterleiten an Kolleg*innen, die vom Fach sind. Davon abgesehen ist es ja auch nicht schlecht, wenn man im Gespräch über die Hemmschwellen nebenbei ein paar Vorurteile über das Leben mit HIV abbauen kann. Die Erfahrung zeigt schließlich, dass viele Leute in dem Bereich auch heute noch große Wissenslücken haben.

Wenn du solchen Leuten drei Fakten über HIV in den Kopf pflanzen könntest, welche wären das?

Erstens: Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Wer eine HIV-Diagnose bekommt, muss nicht den Kopf in den Sand stecken. Das ist kein Weltuntergang mehr wie noch vor 30 Jahren. Zweitens: Verstecken oder verschleiern hilft nicht, es macht die Probleme nur noch schlimmer. Stattdessen sollte man bewusst und offen mit dem Thema umgehen. Wenn das unmöglich scheint, einfach mal bei der Aidshilfe vorbeikommen und beobachten, wie offen und fröhlich die Leute da rumspringen. Das hat mir am Anfang auch Mut gemacht. Drittens, auf gut Hessisch: Lebbe geht weider. Und weil die Medizin inzwischen so toll ist, geht es sogar sehr gut.

Zitat
Diskrimierung? Lass ich mir nicht auftischen!

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