„Wir haben beide geweint“

Nachdem sich Giovanni aus Versehen bei seiner Schwester als positiv geoutet hatte, hat der in Berlin lebende Italiener im vergangenen Jahr auch den ganz großen Schritt gemacht, und es seiner Mutter gesagt. Mittlerweile geht die Familie entspannt mit dem Thema um.

Giovanni

Wann hast du erfahren, dass du HIV-positiv bist. Und wie war das?

Ich werde das Datum nie vergessen, denn es war der Geburtstag meiner Mutter, im Juni 2017. Das Testergebnis war natürlich keine gute Nachricht, aber ich war informiert und wusste, dass es Medikamente gibt, die gut wirken. HIV war mir auch nicht fremd, ich kannte einige Menschen, die damit leben.

Die Nachricht, dass man jetzt selbst damit leben muss, kann einen ja trotzdem erstmal umhauen.

Das stimmt. So war es bei mir aber nicht. Als meine Ärztin anrief, und mir sagte, wir müssten mal reden, dachte ich natürlich: „Oh Fuck!“ Aber ich war jetzt nicht total traumatisiert, als ich die Diagnose bekommen hatte. Früher war ein positiver HIV-Test ein Todesurteil, heute ist die Diagnose immer noch ein Eingriff in dein Leben. Ich war aber innerhalb von drei Wochen auf meine Medikamente eingestellt und wusste sehr schnell, wie es weitergeht. Das lief relativ problemlos.

Hat das auch etwas damit zu tun, dass du in Berlin lebst?

Bestimmt. Mir ist schon klar, dass wir hier in einer Bubble leben, in der es HIV-Positive vielleicht ein bisschen einfacher haben als in kleineren Städten. Wir haben gut informierte Ärzt*innen und die Szene geht auch relativ entspannt mit dem Thema um. Viele kennen den Unterschied zwischen HIV und Aids und wissen auch, dass HIV unter Therapie nicht übertragbar ist.

Wie ist das in deiner zweiten Heimatstadt, Rom?

Das ist auch eine große Stadt. Aber die queere Szene dort funktioniert anders. Natürlich gibt es auch dort gute Praxen und Krankenhäuser. Italien ist aber stark katholisch geprägt. Es gibt viel mehr Scham in Bezug auf Sex, und damit auch in Bezug auf Infektionen, die man sich beim Sex holen kann. Wenn ich in Berlin jemanden anrufe, mit dem ich geschlafen habe, und ihm sage, dass ich positiv auf Syphilis getestet worden bin, dann ist die Antwort: „Danke für die Info, gut zu wissen, jetzt kann ich mich testen und behandeln lassen.“ Wenn ich das in Rom machen würde, gäb‘s ein totales Drama: „Um Gottes willen, du hast mich angesteckt! Wie konntest du nur!“

Schuld und Scham, so nah am Vatikan. Keine Überraschung, oder?

Der ist einfach der Grund dafür. Die italienische Gesellschaft ist von schamfreier, nicht schuldbesetzter Sexualität einfach noch sehr weit entfernt. Schon ein queeres Coming-out ist nicht einfach.

Wann hast du dich denn bei deiner Familie als schwul geoutet?

Da war ich 18. Es war nicht einfach. Mein Vater war einige Jahre zuvor gestorben und hinterließ eine große Lücke. Ich habe dieses Trauma in einer Psychotherapie bearbeitet, was mir sehr gutgetan hat. In meiner ersten Sitzung dachte ich, ich werde nie darüber sprechen, dass ich schwul bin, sondern einfach heiraten und Kinder haben, wie alle anderen Männer. Nach einiger Zeit konnte ich in der Therapie über meine Homosexualität sprechen. Das hat mir sehr dabei geholfen, mein Coming-out vorzubereiten.

Wie hat deine Mama denn auf dein schwules Coming-out reagiert?

Nun ja (lacht). Es ging so. Wir haben das fünf, sechs Jahre später mal besprochen. Rückblickend hätte ich sie vielleicht nicht drängen sollen, sofort etwas dazu zu sagen. Sie wollte erst überhaupt nicht mit anderen Menschen darüber reden, was verletzend für mich war. Vieles hätte anders laufen können. Aber inzwischen haben wir das geklärt und alles ist gut.

Hattest du deswegen Angst, dich ihr gegenüber als HIV-positiv zu outen?

Das hatte vielleicht damit zu tun. Ich habe es ihr im April 2022 gesagt, als sie zu Besuch hier in Berlin war. Wir haben beide geweint. Ich lebe jetzt seit acht Jahren hier und bin seit sechs Jahren positiv. Mama lebt in Rom, kommt mich aber zwei-, dreimal im Jahr besuchen. Ich hatte dieses Gespräch lange mit meiner Schwester vorbereitet, die schon wusste, dass ich positiv bin. Auf der Rückreise hat meine Schwester sie vom Flughafen abgeholt, als Sicherheitsnetz, damit sie eine kompetente Gesprächspartnerin hat, falls sie reden will.

Und wie lief das HIV-Coming-out für dich?

Ich habe es ganz praktisch erklärt. Ich habe meiner Mutter meine Pillen gezeigt, ihr gesagt, warum ich sie nehme und wie sie wirken. Sie war vorher auf dem Informationsstand von vor 30 Jahren. Es gab viel zu erklären und aufzuholen. Selbst bei meiner Schwester, die Chirurgin ist, war das so.

Ist das nicht erschütternd?

Nicht wirklich. Ärzt*innen müssen unglaublich viel lernen, um ihren Job machen zu können. Und HIV ist eben nichts, dass einem als Allgemeinmediziner oder Chirurg jeden Tag begegnet.

Aber um mit HIV entspannt umgehen zu können, braucht es nun wirklich nicht viel Wissen.

Das ist wahr. Das Wichtigste kann man in zehn bis 20 Minuten verstehen. Mein HIV-Coming-out bei meiner Schwester war sowieso eher unfreiwillig. Ich hatte bei einem Besuch in Rom eine meiner Pillen verloren. Einige Monate später fand meine Mutter die im Wäschekorb. Sie ist damit zu meiner Schwester gegangen, weil sie nicht wusste, was das für eine Pille ist. Meine Schwester hat den Arzneimittel-Code gegoogelt und so erfahren, wofür die Pille ist.

Wie hat sie reagiert?

Sie hat mir eine Nachricht geschrieben, ob das meine Pille sei. Das habe ich bestätigt. Sie konnte nicht reden, weil sie bei meiner Mutter war, aber sie hat mir geschrieben, dass sie alles wissen und verstehen wolle. Das hat mir damals sehr gutgetan. Die Angehörigen von Menschen mit HIV müssen ja auch Bescheid wissen, damit sie sich keine unnötigen Sorgen machen. Erst wenn alle auf dem gleichen Wissensstand sind, kann man wirklich miteinander reden. Meine Mutter ist jetzt jedenfalls entspannt mit dem Thema. Meine Schwester hat sie hoffentlich gut informiert.

Hoffentlich?

Wir reden nicht oft über HIV. Sie wollen wissen, dass ich gesund bin, deswegen sage ich ihnen die Ergebnisse meiner Blutabnahmen. Aber sonst eigentlich nicht.

Viele Menschen haben Angst davor, dass sich Beziehungen in ihrer Familie nach einem positiven Coming-out ändern. War das bei dir auch so?

Es hat sich rein gar nichts geändert. Sie haben jetzt einfach eine Information mehr über mich und mussten die kurz verarbeiten. Sonst ist alles wie vorher. Meine Familie und ich haben ein enges Verhältnis und sie werden immer für mich da sein, daran ändert sich nichts. Wer sich für ein HIV-Coming-out entscheidet, sollte allerdings immer in Betracht ziehen, dass Familie, Freund*innen oder Sex-Partner*innen auch ablehnend reagieren könnten. Es ist wichtig, das einzukalkulieren.

Würdest Du ein HIV-Coming-out denn empfehlen?

Ich gebe keine Empfehlungen für Situationen, die ich nicht kenne. Es kommt wirklich sehr auf die Umstände und die Familie an. Niemand muss. Das ist eine zutiefst private und persönliche Entscheidung. Wer glaubt, dass es gut gehen wird und meint, sich dann besser zu fühlen, kann es tun. Wer kein gutes Verhältnis zu seiner Familie hat, sollte sich das nicht antun.

Was hilft denn beim Coming-out, wenn man sich dafür entscheidet?

Man braucht ein gutes Netzwerk außerhalb der eigenen Familie. Einen Freundeskreis, eine Gemeinschaft. Ich habe das alles, und schon für mich, war es nicht leicht. Ich dachte, ich würde nie mit meiner Familie über mein HIV reden. Warum auch? Aber mein Coming-out hat unsere Beziehung noch tiefer und stärker gemacht.

Wenn schon das HIV-Coming-out in der Familie ein großer Schritt für dich war, warum jetzt der Schritt in die Öffentlichkeit mit der Kampagne?

Ich bin ein politisch bewusster und aktiver Mensch. Ich habe auch viele HIV-positive Freunde, die nicht mit ihren Familien darüber reden. Denen und anderen Menschen möchte ich ein Beispiel geben: Es ist möglich und kann gut enden. Das macht mir auch ein bisschen Spaß.

Weiß deine Mama, dass du das machst?

Ja, und ich glaube, sie ist vielleicht auch ein bisschen stolz auf mich.

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