„Ich hätte von Anfang an offen über die Infektion sprechen sollen“

Als Julia, 31, erfuhr, dass sie HIV-positiv ist, war sie Anfang 20 und auf alles Mögliche gefasst, aber nicht auf diese Diagnose. Ihr privates Umfeld hinderte sie auf die ganz harte Tour an einem konstruktiven Umgang mit der HIV-Infektion. Das hat sie „zu einer anderen Person“ gemacht. Doch sie hat sich freigeschwommen. Inzwischen ist sie wieder mit der Welt im Reinen. Indem sie öffentlich von ihrer langen Reise zurück zu sich selbst erzählt, will sie anderen Mut machen.

Eine Person mit schulterlangen blonden Haaren, orangenem Pullover und blauer Jeans sitzt auf einer Wippe an einem Kinderspielplatz und lächelt in die Kamera.

Julia, du hast im Alter von 21 erfahren, dass du positiv bist. Wie kam es dazu?

Eigentlich war das Zufall. Ich war bei der Knochenmarkspende. Zwei Wochen später bekam ich eine Nachricht von der Stelle, wo die Spende stattgefunden hatte: „Kommen Sie bitte noch mal in die Praxis, mit ihrem Blut stimmt was nicht.“ Ich hab mit allem Möglichen gerechnet und erst gedacht, ich hätte vielleicht selbst Knochenmarkkrebs. Dann wurde mir mitgeteilt, dass ich HIV habe. Das war ein totaler Schock.

Weißt du, wie du dich infiziert hast?

Ja, das passierte in der Beziehung, die ich damals seit knapp einem Jahr hatte. Das weiß ich deshalb, weil ich mit einem negativen Test in die Beziehung reingegangen bin.

Wie schätzt du denn deinen damaligen Aufklärungsstand in Sachen HIV ein?

Ziemlich gering. Deshalb war die Diagnose ja so ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte tatsächlich Angst, dass die HIV-Diagnose mein Todesurteil ist. Meine erste Frage war: „Werde ich jetzt sterben?“ Ich weiß noch, dass ich als Teenager immer Poster von der „mach’s mit“-Kampagne an der Wand hängen hatte. Die war Anfang des Jahrtausends ja ein großes Ding. Ich wusste also, was das HI-Virus ist, aber ich wusste nicht, wie gut es heute behandelbar ist.

Du hast offenbar auch nicht damit gerechnet, dass es dich betreffen könnte?

Ich gebe zu, dass die Möglichkeit, mich selbst zu infizieren, außerhalb meiner Vorstellungskraft lag. Das geht ja, glaub ich, vielen so, gerade heterosexuellen jungen Menschen. Die meisten glauben immer noch, HIV betreffe in erster Linie Schwule. Viele Ärztinnen und Ärzte scheinen ähnlich zu denken. Ich hatte in dem halben Jahr vor der Diagnose jedenfalls viele Anzeichen, war oft krank, hatte Herpes, Keuchhusten und so weiter. Aber mir wurden immer nur Antibiotika verschrieben. Auf die Idee, einen HIV-Test zu machen, kam irgendwie niemand.

Wie ging es nach der Diagnose weiter?

Die akute Angst zu sterben hat der Arzt, der mir das Testergebnis mitgeteilt hat, schnell zerstreut. Ich war trotzdem völlig fertig. Ich hatte ja überhaupt nicht mit sowas gerechnet. Die Leute von der Spenden-Stelle haben dann meinen damaligen Freund angerufen, und der kam mit seinem älteren Bruder vorbei, um mich abzuholen. Der Arzt meinte, mein Freund solle sich zur Sicherheit auch gleich testen lassen. Zwei Tage später hatten wir sein Ergebnis. Das war auch positiv. Damit hatten wir es Schwarz auf Weiß. Danach haben wir unsere Familien informiert, und es wurde langsam schwierig.

Inwiefern schwierig?

Das eine war der Umgang meines Freundes mit der Situation. Ich hab immer gesagt, er soll seine alten Affären aufsuchen und denen von seinem Testergebnis erzählen, damit die Bescheid wissen, das fand ich voll wichtig. Aber aus Angst, seine Infektion könnte sich herumsprechen, hat er mit kaum jemandem drüber gesprochen. Seine Familie hat das auch so vorgegeben. Uns beiden wurde ziemlich deutlich gesagt, dass wir die Infektion nicht nach außen tragen dürfen.

Du solltest nicht offen drüber sprechen?

Ja. Für mich war das total schwierig. Ich bin eigentlich eher eine offene Person. Ich muss über meine Probleme sprechen, um sie selbst zu akzeptieren und zu verarbeiten, und die Diagnose war natürlich ein Rieseneinschnitt in meinem Leben. Aber als ich mich damals einer guten Freundin anvertraut und meinem Freund davon erzählt hatte, wussten kurz danach seine Eltern Bescheid. Die waren dann wirklich sauer auf mich, weil ich das Verbot, über die Infektion zu sprechen, missachtet hatte. Sie haben erst mal nicht mehr mit mir gesprochen.

Eigentlich ist es ja deine eigene Entscheidung, mit wem du darüber reden möchtest.

Ich muss dazu sagen, dass ich zu der Familie vorher ein sehr gutes Verhältnis gehabt hatte. Ich hab mich da sehr wohl gefühlt. Das änderte sich nach der Diagnose. Nicht nur wegen der Redeverbote, auch weil seine Eltern Schuldgefühle gemacht haben mit Kommentaren wie: „Es kann ja auch sein, dass das Virus von dir kommt“. Vermutlich wollten sie nicht wahrhaben, dass ihr Sohn einen Fehler gemacht hatte, das ist ja vielleicht normal bei Eltern. Aber angesichts der Vorgeschichte fühlte ich mich da in eine sehr seltsame Position gerückt.

Welche Rolle spielte denn die Schuldfrage für dich selbst?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass sie keine Rolle spielte. Ich war schon auch supersauer auf meinen damaligen Freund. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, das innerhalb der Familie oder gegenüber anderen thematisieren zu müssen. Das war ein Ding zwischen uns beiden. Aber wegen seines passiven Verhaltens haben wir es damals auch untereinander nicht so richtig geklärt. Rückblickend würde ich sagen: Die Beziehung ist auch an der Wut gescheitert ist, die ich deshalb auf ihn hatte.

Wie lange habt ihr es denn unter diesen Umständen noch miteinander ausgehalten?

Das war ein bisschen kompliziert. Nach der Diagnose waren wir noch etwa ein Jahr zusammen. Als wir uns getrennt hatten, war ich erst froh, weil ich genug hatte von der gedrückten Stimmung in der Familie und seinem komplizierten Charakter. Aber dann hab ich erst gemerkt, wie sehr mich die Schuldzuweisungen und die Heimlichtuerei verunsichert hatten. Bald hatte ich Angst, für immer allein zu bleiben. Ich  dachte, es wäre unmöglich, wieder jemanden zu finden, der mit mir zusammen sein will. Als mein Freund dann versucht hat, mich zurückzugewinnen, bin ich deshalb zu ihm zurückgegangen. Danach waren wir noch mal etwa ein Jahr zusammen, bis die Beziehung ziemlich unschön ´zu Ende ging.

Wie hat sich das auf deinen Umgang mit der HIV-Infektion ausgewirkt?

Ich habe angefangen, eigene Strategien im Umgang mit der Infektion zu verfolgen, offen mit meinem HIV-Status umzugehen und neues Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Wie hast du es geschafft, dich nach drei Jahren Schweigen zu öffnen?

Erstens hab ich eine Psychotherapie angefangen, zweitens bin ich auf eine lange Reise gegangen. Es war schon früh ein Lebenstraum von mir gewesen, mal allein auf Reisen zu gehen. Als ich 2015 mit meiner Ausbildung fertig war, hab ich das getan. Der Klassiker: Australien, Neuseeland, Indonesien, Thailand. Das war mega und sehr heilsam. Ich hab auf der Reise auch zwei Freundinnen kennengelernt, mit denen ich viel über die Infektion geredet habe. Dabei wurde mir erst klar, wie sehr mir das gefehlt hatte. Das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, hatte ich ja eigentlich von Anfang an gehabt. Aber weil mir verboten wurde, HIV offen zu thematisieren, hab ich irgendwann selbst gedacht, das wäre falsch. Für mich persönlich wäre das total wichtig gewesen, ich hätte es viel früher tun sollen – um zu verstehen und zu verzeihen, sowohl mir selbst als auch meinem damaligen Freund. Die Psychotherapie hat dann zusätzlich geholfen, wieder mit mir ins Reine zu kommen. Im Prinzip bin ich durch die Infektion zu einer anderen Person geworden.

Was meinst du damit genau?

Vor der Diagnose war ich eigentlich nie unsicher oder verschlossen gewesen. Danach war ich beides. Außerdem war ich durch das Schweigen und die ständige Angst was falsch zu machen, innerlich total in Aufruhr. Ich konnte nicht einordnen, inwiefern das Virus mich als Person ausmacht und meine Persönlichkeit prägt. Vielleicht kann man den Prozess, der durch die Reise und die Therapie angestoßen wurde, ein bisschen mit Trauerarbeit vergleichen. Die Infektion bedeutete in gewisser Weise einen Verlust meiner alten Identität. In Wahrheit war dafür natürlich nicht die Infektion als solche verantwortlich, sondern die Reaktionen meines Umfelds. Aber der Effekt war so oder so, dass ich nachhaltig verunsichert war. Die Nachwirkungen dieser Zeit spüre ich bis heute. Ich sage zum Beispiel immer noch übermäßig oft Entschuldigung, selbst wenn ich überhaupt nichts Schlimmes gemacht habe. Und ich fürchte, die Angst vor Zurückweisung, wenn ich jemanden neu kennenlerne und zum ersten Mal von der Infektion erzähle, wird mich mein Leben lang begleiten.

Hast du Tipps für Leute, die nach einer Diagnose an sich selbst zweifeln oder Schuldgefühle entwickeln?

Mein grundsätzlicher Tipp wäre, dass man auf die eigenen Bedürfnisse hören und sich selbst treu bleiben sollte, statt sich einlullen zu lassen von Vorwürfen, Fremdurteilen und den Vorstellungen anderer Leute. Es ist wichtig, sich ein gutes, nicht toxisches Umfeld zu schaffen. Darüber hinaus glaube ich, dass jeder Mensch Krisen anders bewältigt und einen eigenen Weg finden muss. Offenheit und über Probleme reden ist aber mit Sicherheit sinnvoll. Mir persönlich hilft auch, manche Dinge mit etwas Abstand neu zu betrachten und zu bewerten. Ich habe mich zum Beispiel später noch mal mit meinem damaligen Freund getroffen. Da haben wir beide unseren Frieden miteinander und mit der Vergangenheit gemacht. Das Kriegsbeil zwischen uns ist also begraben, heute wünsche ich ihm alles Gute. Ich denke, diese Form, Frieden zu schließen – nicht nur mit sich selbst, auch mit anderen Beteiligten – ist wichtig, um optimistisch nach vorne schauen zu können. 

Wenn du drei Fakten über HIV in die Köpfe aller Menschen einpflanzen könntest, welche wären das?

Als erstes würde ich klarstellen, dass das Bild von der Schwulenkrankheit HIV erstens super stigmatisierend und zweitens falsch ist. HIV betrifft nicht nur schwule Männer, sondern alle. Zweitens ist mir wichtig zu sagen, dass das Leben mit HIV genauso lebenswert ist wie jedes andere. Ich nehme einmal täglich eine Tablette ein, ansonsten habe ich keine Einschränkungen. Ich hab die gleiche Ausdauer wie andere, bin genauso leistungsfähig, kann genauso feiern und so weiter. Man sieht mir das Virus auch nicht an.

Das glauben die Leute immer noch?

Ich habe das anfangs selbst geglaubt. Eine meiner ersten Fragen bei meinem ersten Schwerpunktarzt war, ob man mir irgendwann ansehen wird, dass ich das HI-Virus in mir trage. Das war natürlich totaler Blödsinn.

Und drittens?

Der dritte Fakt betrifft eine Frage, die mir häufig von Freundinnen gestellt wurde und die auch mich selbst nach der Diagnose beschäftigt hat: Ja, man kann auch als HIV-positive Frau Geschlechtsverkehr ohne Kondom haben und gesunde Kinder zur Welt bringen. Positive Frauen, die Mütter werden wollen, brauchen diesen Traum also nicht aufzugeben.

Mit deiner Teilnahme an der WAT-Kampagne machst du einen großen Schritt in die Öffentlichkeit. Was versprichst du dir davon?

Ich möchte anderen Menschen Mut machen, die ähnlich verunsichert sind wie ich damals. Ich habe das Gefühl, dass ich genau das Richtige tue, wenn ich meine Geschichte öffentlich erzähle. Ich hatte bis vor kurzem null Komma null Erfahrung mit öffentlichen Auftritten, deshalb kann ich bei manchen Themen sehr emotional werden. Ich finde das aber okay, denn es ist authentisch. Beim Foto-Shooting für diese Kampagne haben mich Glücksgefühle überwältigt. Meine emotionale Seite hab ich lange vernachlässigt. Jetzt kommt sie umso stärker durch, das finde ich voll schön.

Zitat
Schuldgefühle? Da spiel ich nicht mit!

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