„Meine Tochter wusste schon früh dass ich HIV-positiv bin“

Lillian, 52, hat noch ein paar Rechnungen offen. In Uganda, wo sie aufgewachsen ist, hat sie viele Freunde durch Aids verloren, weil es dort an Zugang zu HIV-Therapien fehlte. Auch in Deutschland musste sie viele Widerstände und Vourteile überwinden. Inzwischen hat sie hier ihre zweite Heimat gefunden, eine Tochter zur Welt gebracht und geheiratet. Vor Kurzem ist sie Großmutter geworden. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben. Aber ihre offenen Rechnungen hat sie nicht vergessen. Deshalb erzählt sie die Geschichte von sich und ihrer Tochter.

Eine Person mit kurzen, dunklen Rastas und einem bunten Kleid steht an einem Bauturm an einem Kinderspielpatz und lächelt in die Kamera.

Lillian, du hast erfahren, dass du HIV-positiv bist, als du gerade nach Deutschland gekommen warst.,. Wie kam es dazu?

Mein letztes Jahr in Uganda war schlimm. Ich war schwer krank, hatte Tuberkulose. Dadurch habe ich mein erstes Kind, meinen Sohn, verloren. Seine Wirbelsäule war von Tuberkulose zerfressen, deshalb konnte er den Kopf nicht halten und bekam einen Wasserkopf. Er hat immer süß gelächelt und seine kurze Rolle auf dieser Welt gespielt, aber nach nur sechs Monaten starb er. Danach musste ich weg aus Uganda. Ich wollte nicht, dass meine Mama erst ihren Enkel und dann ihre Tochter sterben sieht.

Was hast du getan?

Angehörige, die nach England gegangen waren, luden mich ein. Ich hielt das für eine gute Idee, denn ich hatte gehört, dass die medizinische Versorgung dort gut sein sollte. Aber ich bekam kein Visum. Als ich von Schleppern hörte, die Menschen von Uganda über Deutschland nach England brachten, wählte ich diesen Weg. Doch als ich in Deutschland ankam, hatte sich die Tuberkulose derart verschlimmert, dass ich nicht mehr weiterkonnte. Deshalb habe ich einen Asylantrag gestellt. In der Notaufnahme wurde ich auch auf HIV getestet. Das Ergebnis war positiv.

Wie ging es dann für dich weiter?

Ich kam direkt in eine Tuberkulose-Klinik irgendwo im Wald in Sachsen-Anhalt. Normalerweise werden medizinische Behandlungen bei Migrant*innen in Deutschland erst bewilligt, wenn das Asylverfahren abgeschlossen ist, aber dies war ein Notfall. Es dauerte drei Monate, bis ich wieder einigermaßen bei Kräften war.

Wurde bei dem Klinikaufenthalt auch mit der HIV-Therapie begonnen?

Nicht sofort. Ich hatte zwar nur noch sieben Helferzellen und eine Viruslast von weit über 10.000, aber im Gegensatz zur Tuberkulose galt HIV für die Behörden nicht als Notfall. Nach einer Weile entschied der Professor in der Klinik, dass ich mit der Therapie anfangen musste, obwohl es noch keine Kostenzusage gab. Für mich war das damals alles sehr schwer nachzuvollziehen. Es gab in der Klinik zwar Übersetzer, aber die langen Auskünfte der Ärzte wurden immer nur zusammengefasst  zu pauschalen Aussagen wie „Mach dir keine Sorgen!“ oder „Du brauchst Therapie.“
Die Hintergründe verstand ich nicht. Das Gefühl, nie genau zu wissen, was da über mich geredet wurde, hat mir zugesetzt. Deshalb mache ich mich heute dafür stark, dass Migrant*innen mehr Zeit für erklärende Gespräche und ausführliche Übersetzungen gegeben wird.

Anfang 2001 wurdest du erneut schwanger. Ein Grund zur Sorge?

Für mich selbst war es ein Grund zur Freude. Ich lebte inzwischen im Asylbewerberheim und es ging mir gesundheitlich viel besser. Nachdem ich mein erstes Kind verloren hatte, wollte ich dieses unbedingt bekommen. Mir wurde wegen gesundheitlicher Risiken trotzdem geraten, ich solle das Kind abtreiben. In dem Landkreis, in dem ich untergebracht war, war die Beratung sowohl im medizinischen als auch im sozialen Bereich wirklich nicht gut. Das war ein Problem, denn Asylbewerber*innen dürfen den Landkreis nicht verlassen, in dem ihr Antrag bearbeitet wird. Man ist quasi eingesperrt. Ich hatte Glück, dass ich an eine Sozialarbeiterin geriet, die mir Sondergenehmigungen für Reisen nach Berlin besorgte. Dort konnte ich Spezialisten für HIV und Geburten aufsuchen. So kam meine Tochter Yasemin im November 2001 in der Charité zur Welt. Sie ist HIV-negativ. Eine Übertragung von der Mutter auf das Kind ließ sich auch damals schon verhindern.

Und wie ging es mit dem Asylverfahren weiter?

Bei Yasemins Geburt lief das Asylverfahren noch. Bis mein Bleiberecht aus humanitären Gründen anerkannt wurde, dauerte es noch mal bis Mai 2003.

Welche humanitären Gründe waren das?

Ein Resistenztest hatte ergeben, dass bei mir nur noch zwei in Uganda erhältliche HIV-Medikamente wirksam gewesen wären. Für eine HIV-Standardtherapie braucht man drei Medikamente, ich hätte in Uganda also nicht mehr therapiert werden können. Das war ein Abschiebehindernis und mein Weg zum Bleiberecht in Deutschland. Zunächst war ich aber nur geduldet, hatte keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Deswegen durfte ich zum Beispiel auch nicht arbeiten. Ein schrecklicher Zustand, der Integration verhindert. Erst als ich 2006 geheiratet habe, hatte ich alle Rechte.

Du engagierst dich sehr für Aufklärung und HIV-Prävention. Wie kam es dazu?

Mein Mann ist Deutscher, ebenfalls HIV-positiv und arbeitete damals bei der Aidshilfe in Saarbrücken. Yasemin und ich sind dann aus Sachsen-Anhalt zu ihm ins Saarland gezogen. Durch ihn kam ich zwangsläufig mit Projekten der Aidshilfe in Kontakt. Ich selbst habe mich anfangs noch dagegen gewehrt, meine eigene Infektion allzu öffentlich zu machen, weil ich in Uganda und im Asylbewerberheim viele Vorurteile erlebt hatte.  Als mein rechtlicher Status sicher war, fühlte ich mich auch sicher genug, offensiv out zu sein und gab erste Interviews über mein Leben mit HIV. Seither kamen immer neue Aufgaben. Inzwischen betreue ich ganz unterschiedliche Präventionsprojekte in Schulen, in der afrikanischen Community, für Frauen und Geflüchtete.

Warum wolltest du 2022 bei der Welt-Aids-Tag-Kampagne dabei sein?

Mein Hauptthema ist gar nicht meine eigene Geschichte. Es geht mir um Diskriminierung von Kindern HIV-positiver Mütter. Yasemin ist inzwischen 21 Jahre alt. In diesem Jahr hat sie ihre erste eigene Tochter bekommen, die kleine Malaiika. Die Geburt hat mich daran erinnert, dass HIV-Infektionen nicht nur bei den Betroffenen selbst zu Diskriminierung führen, sondern auch bei ihren Nachkommen. Außenstehende projizieren die Infektion oft auf Kinder oder sogar Enkelkinder. Nachdem ich in der Saarbrücker Zeitung zum ersten Mal über mein Leben mit HIV gesprochen hatte, haben wir zum Beispiel erlebt, dass Eltern ihren Kindern verboten, in die Freizeitgruppe zu gehen, in der Yasemin war, weil sie Angst hatten, meine Tochter könnte ihre Kinder mit HIV infizieren.

Wie kam Yasemin mit solchen Zurückweisungen klar?

Sie selbst sagt, sie hatte nie große Problem. Das hat sicher auch damit zu tun, dass wir von Anfang an versucht haben, sie durch Offenheit und Aufklärung zu einer selbstbestimmten Person zu erziehen. Sie wusste schon früh, dass ich eine Infektion habe, dass ich Medikamente nehmen muss und wo ich sie aufbewahre. Die Infektion vor ihr zu verstecken, hätte zur Folge gehabt, dass sie sie selbst tabuisiert, also traten wir die Flucht nach vorne an und nahmen sie überall mit hin. Sie war mit bei der Aidshilfe, sie hat uns zu Aktionen begleitet und sie war von klein auf bei den jährlichen Treffen der Kinder von HIV-Positiven dabei. Dort werden Empowerment-Schulungen gemacht, die Kinder können Erfahrungen austauschen und sie merken, dass sie nicht allein sind als Kinder positiver Eltern. Durch solche Erfahrungen hat Yasemin früh einen selbstverständlichen Umgang mit dem Thema HIV gelernt.

Wie ist sie mit Diskriminierung umgegangen?

Als irgendwann eine Lehrerin im Aufklärungsunterricht erzählte, HIV-Positive würden grundsätzlich an ihrer Infektion sterben, und dass es für positive Frauen unmöglich sei, gesunde Kinder zur Welt zu bringen, hat Yasemin sich gemeldet und die Sache anhand ihrer eigenen Geschichte richtiggestellt. Sie hat gelernt, das Vorurteil abzuwehren, ihre Mutter sei wegen ihrer Infektion gefährlich oder ansteckend. Deshalb sage ich: Mein Kind ist nicht von schlechten Eltern.

Das klingt nach einem vorbildlichen Umgang. Aber ist er repräsentativ?
Apropos Unwissen. Wenn du der Gesamtgesellschaft drei Fakten über HIV in die Köpfe pflanzen könntest, welche wären das?

Erstens: HIV unter Behandlung ist nicht mehr übertragbar. Letztendlich ist also nicht das Virus das größte Problem, sondern Stigmatisierung, die dazu führt, dass manche Menschen HIV es verdrängen deswegen gar nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind. Zweitens: Aufklärung hilft, erleichtert und rettet Leben. Aber sie muss rechtzeitig stattfinden. Nur so kann man rechtzeitig testen, Medikamente verabreichen und Mitmenschen sensibilisieren. Und drittens: Wenn wir HIV in den Griff bekommen wollen, muss Therapie für alle zugänglich sein. Im Moment ist der Zugriff auf Medikamente je nach Herkunft, Gesetzeslage, Hautfarbe und gesellschaftlichem Status weltweit sehr unterschiedlich. Viele Menschen in anderen Ländern haben keinen Zugang zu Therapien, Menschen, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, auch nicht. Auch sie müssen so schnell wie möglich und ohne Hindernisse HIV-Medikamente erhalten!

Zitat
Meine Tochter? Nicht von schlechten Eltern!

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