„Wir müssen Unwissen mit Fakten beantworten“

Olli ist 25, studiert Psychologie und genießt die Vielfalt des queeren Lebens. Vor viereinhalb Jahren erfuhr er, dass er HIV-positiv ist. Gesundheitlich hat ihm die Infektion nie Probleme bereitet und auch die HIV-Therapie vertrug er von Anfang an gut. Psychisch hingegen war die Diagnose für ihn eine Herausforderung. Auch weil ihm zunächst geraten wurde, sie vor der Welt geheim zu halten. Ein grundfalscher Rat für ihn, wie Olli erkannte. Jetzt macht er es umgekehrt und sagt es mit dieser Kampagne allen.

Eine Person mit blonden Haaren und dunklen Bart, hellblauen Hoodie sowie grüner Hose sitzt vor einem Glasgebäude und lächelt in die Kamera.

Olli, warum wolltest du in diesem Jahr bei der Kampagne mitmachen?

Ich möchte meinen Beitrag leisten, neue und vielfältige Narrative über das das Leben mit HIV zu etablieren. HIV-positive Menschen sind super unterschiedlich sind lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Das Gleiche gilt für die Arten, wie wir mit der Infektion umgehen. Außerdem möchte ich etwas mit anderen HIV-Positiven teilen, was ich selbst erst lernen musste: Ein konstruktiver Umgang mit der Infektion fällt leichter, wenn wir offen darüber sprechen, als wenn wir sie für uns behalten. Das musste ich selbst erst lernen. Wenn außerdem noch ein paar Leute, die sich bisher nicht von HIV betroffen fühlten, dazu angeregt werden, ihr Wissen upzudaten, wäre das natürlich auch fein.

Was sollten die Leute zum Beispiel wissen?

Zum Beispiel die Regel n=n, also „nicht nachweisbar gleich nicht infektiös“. Das heißt im Klartext: HIV ist unter Therapie nicht übertragbar, auch beim Sex nicht. Das ist schon Jahre wissenschaftlich belegt, aber viele scheinen es immer noch nicht zu wissen. 

Kanntest du diese Regel, als du dich infiziert hast?

Nicht wirklich. Mein Wissensstand zu dem Zeitpunkt ziemlich gering war. Damals war ich 20 Jahre alt und wusste, dass ich als Mann, der Sex mit Männern praktiziert, ein höheres HIV-Risiko habe als andere, und dass es also dazugehört, dass ich mich alle drei Monate teste. Das habe ich auch gemacht. Darüber hinaus habe ich mich aber nicht groß damit auseinandergesetzt, was HIV bedeutet und wie es behandelt wird. Von daher war es ein ziemlicher Schock, als ich nach einer Routine-Testung die Diagnose HIV-positiv bekam.

Wie bist du damit umgegangen?

Meine Hausärztin, bei der ich die Diagnose bekommen habe, hat mir gleich die Adresse einer Fachärztin gegeben. Da habe ich ein bisschen panisch angerufen, erzählt, dass mein HIV-Test positiv war, und gefragt, ob ich einen Termin bekommen kann. Die Ärztin war ganz ruhig und meinte: „Wann haben Sie die Diagnose denn bekommen?“ – „Heute.“ – „Ach, heute erst, na dann kommen Sie doch mal in einem Monat vorbei.“ Ein Monat! Das kam mir in diesem Moment ewig lang vor, deshalb habe ich gesagt: „Entschuldigung, für mich bricht hier gerade eine Welt zusammen, ich glaub, so lange kann ich nicht warten.“ Da hat sie gelacht und gesagt: „Na, dann kommen Sie halt morgen.“ Diese Reaktion hat mich sehr irritiert. Allerdings war die Ruhe, die mir die Ärztin durch das Telefonat vermittelt hat, wohltuend. Auch die Beratung war beruhigend. Sehr nüchtern und aufgeklärt, aber auch sehr zugewandt. Ich bin dann relativ bald nach der Diagnose in die HIV-Therapie eingestiegen und war nach ein paar Monaten unter der Nachweisgrenze. (Das bedeutet: HIV ist mit den üblichen Methoden im Blut nicht mehr nachweisbar und nicht mehr übertragbar. Anm. d. Red.) Von medizinischer Seite wurde ich also gut aufgefangen, da gab es von Anfang an eine stabile Grundlage.

Hat diese stabile Grundlage im privaten Bereich gefehlt?

So klar würde ich das nicht sagen. Ich hatte auf jeden Fall Menschen um mich, die sich um mich gesorgt haben. Leider war diese Sorge so groß, dass einige Ratschläge für einen gesunden Verarbeitungsprozess nicht sehr hilfreich waren. Ich habe mich einer Bezugsperson anvertraut, deren Bilder und Wissenstand von HIV antiquiert  waren. Diese Person riet mir dann, ich solle die Infektion besser für mich behalten und keinem davon erzählen. Das war fürsorglich gemeint und sollte mich vor Zurückweisung schützen. Aus heutiger Sicht war es aber total falsch. Dieses Nicht-darüber-Reden hat mich ziemlich krank gemacht. Dadurch bin ich in eine Internalisierungsschleife reingerutscht, durch die ich jegliches Selbstwertgefühl verloren habe.

Internalisierung heißt Verinnerlichung. Was hast du denn verinnerlicht? Und warum Schleife?

Es gab einen Vorfall, der das gut auf den Punkt bringt: Ein knappes Jahr nach meiner Diagnose habe ich mein Psychologiestudium begonnen. Leute aus dem dritten Semester übernahmen in unserem Studiengang Patenschaften für die Erstis, um sie in den Uni-Alltag einzuführen. Einmal hat mich mein Pate zu einem Abendessen in seiner WG eingeladen. Wir wollten ein bisschen was trinken, dann noch feiern gehen. Seine Mitbewohnerin studierte Zahnmedizin und erzählte an diesem Abend, dass in ihrem Behandlungskurs eine HIV-positive Patientin gewesen war. Die hatte das im Vorfeld nicht gesagt, es war erst im Laufe der Behandlung rausgekommen. Und diese Mitbewohnerin erzählte dann ganz stolz, dass sich alle voll aufgeregt und die Patientin runtergemacht hatten, von wegen, sie hätte ihren HIV-Status vorher angeben müssen. Dann hätte man ihre Termine ans Ende Schicht legen und danach entsprechend alles saubermachen und desinfizieren können. Das ist aus zahnmedizinischer Perspektive eine völlig falsche Haltung. Die üblichen Hygienemaßnahmen reichen völlig aus.

Was hat das mit dir gemacht, das zu hören?

Ich fand es richtig krass, wie die Studentin sich dafür abfeierte, diese Frau runtergemacht zu haben und mit welchem Ekel sie von ihr sprach. Zum Glück erlebe ich andere Medizinstudierende sonst meist nicht so. Aber es gibt auch solche überholten Ansichten noch. Ich habe das damals als Bestätigung dafür genommen, dass ich meine Infektion besser für mich behalten sollte. Vor allem aber nahm ich den Ekel persönlich und projizierte ihn auf mich. Und weil ich mit niemandem darüber sprach und alles in mich hineinfraß, ekelte ich mich irgendwann vor mir selbst.

Wie bist du aus diesem Teufelskreis rausgekommen?

Anfangs habe ich versucht zu verdrängen, indem ich richtig viel gearbeitet, gefeiert und mich betäubt habe. Aber dann kam die Corona-Pandemie. Da brachen plötzlich alle Strukturen weg, die ich mir aufgebaut hatte, um mich am Laufen zu halten. Ich bin in eine schwere Depression gerutscht. Die HIV-Infektion war nicht der einzige Grund dafür, aber sie spielte eine große Rolle. Auf einmal war Sense, es ging gar nichts mehr.

Und dann?

Ende 2020 war ich in Gefahr mir das Leben zu nehmen. Da merkte ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Also habe ich mir einen Therapeuten gesucht und nebenbei angefangen, mein Wissen und mein Umfeld zu erweitern. Ich habe Seminare der Deutschen Aidshilfe besucht, bin zu Jungpositiventreffen gefahren und habe Selbsthilfeveranstaltungen besucht. Die Aidshilfe hat auch ein Buddy-Projekt, wo andere HIV-Positive Menschen mit einer neuen Diagnose beraten. So ein Gespräch habe ich auch in Anspruch genommen. Ich kann das allen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, nur empfehlen! Der Austausch mit anderen Positiven hat mir wahnsinnig geholfen, ein entspanntes Verhältnis zu meiner Infektion aufzubauen. Nach und nach habe ich gelernt, dass offen über HI V zu sprechen mir selbst die Macht gibt mitzubestimmen, wie andere mich sehen.

Wie funktioniert das ganz praktisch?

Ich kann die Reaktionen der Leute ein Stück weit steuern, wenn ich selbstbewusst über die Infektion rede und Unwissen mit Fakten beantworte. Wenn ich argumentiere, statt verschämt herumzustammeln, bleibt weniger Raum für blöde Reaktionen und vorschnelle Abwertung, dafür entsteht mehr Raum für Erkenntnisse, Anteilnahme und Fragen. Es haben sich auch schon Leute bei mir bedankt, dass ich ihnen die aktuelle Faktenlage zum Thema HIV erklärt habe, weil sie ihnen in Zukunft einen bewussteren Umgang mit anderen Positiven ermöglicht. Das fand ich sehr ermutigend.

Was hast du sonst noch gelernt, wie du dich behaupten kannst?

Ein sehr wichtiger Punkt war für mich die Erkenntnis: Ich sage zwar „Ich bin positiv“, aber eigentlich habe ich einfach nur ein Virus in mir, das meine Persönlichkeit oder mein Leben nicht definiert. Da dieses Virus medikamentös gut behandelbar ist, gibt es keinen Grund, mich deswegen schlecht zu fühlen, selbst wenn andere Leute meinen, mich dafür verurteilen zu müssen. Wir alle konstituieren unsere Realität selbst. Wir sind verantwortlich für unser Wissen, und was wir daraus machen. Wenn andere Leute mich diskriminieren, ist das ein Indikator für ihren beschränkten Horizont, nicht dafür, dass sie mich zu Recht diskriminieren. Das zu verinnerlichen, hat mir sehr geholfen.

Erlebst du trotzdem noch Diskriminierung?

Im Alltag beobachte ich weniger direkte Diskriminierung als Vorurteile, die auf Unwissen beruhen. Die finde ich erst mal menschlich und nachvollziehbar, solange sich die Leute nicht hinter ihrem Unwissen verschanzen und sich weigern Vorurteile zu korrigieren. Beim Daten über Apps wie Grindr läuft es ein bisschen direkter. Da brechen schon öfter mal Leute die Kommunikation ab, wenn man schreibt, dass man HIV-positiv ist. Ich kommuniziere meine Infektion inzwischen bei Sex-Dates nicht mehr im Vorfeld. Ich habe zwar nichts zu verbergen und wenn ich gefragt werde, antworte ich wahrheitsgemäß, aber ein Sex-Date ist für mich kein Anlass, bei dem ich das Gefühl habe, Aufklärung machen zu müssen. Das Risiko einer Übertragung besteht ja durch meine Therapie nicht. Läuft das Dating auf näheres Kennenlernen und eine Vertrauensebene hinaus, komme ich dagegen relativ schnell mit dem HIV-Thema um die Ecke. Gar nicht unbedingt, weil ich das Gefühl habe, dass es in meiner Verantwortung liegt, mich zu offenbaren, eher weil ich vermeiden möchte, dass aus dem Thema im Nachhinein ein Vertrauensmissbrauch konstruiert wird.

Du definierst dich selbst als queer. Siehst du HIV als Bestandteil deines Queer-Seins?

Definitiv, ja! Für mich bedeutet Queer-Sein in erster Linie eine Gegenposition zur heteronormativen Allgemeinvorstellung von Liebe, Beziehung, Identität und Sexualität. Eine Abwendung von Schwarz-Weiß-Denken also, und eine Hinwendung zum Verständnis, dass Menschen bunt, vielseitig und vor allem ambivalent sind. Durch einen queeren Lebensstil verkörpert man in meiner Auffassung die Haltung „Sowohl als auch“ statt „Entweder, oder“. Als queere Person definierst du dich selbst und kannst sein, was du willst, brauchst und magst. Dafür, dass wir diese Freiheiten heute leben können, haben queere Menschen in der Vergangenheit hart gekämpft. Mir ist klar, dass die Aids- und HIV-Protestbewegung der Achtziger und Neunziger ein zentraler Bestandteil dieses Kampfes war. Ich möchte HIV heute aber nicht zu stark im queeren Kontext verorten, weil dadurch zu viele Facetten des gegenwärtigen Lebens mit HIV ausgeblendet werden. Außerdem kultiviert es letztlich Stereotypen, von denen wir wegkommen sollten. Auch weil sie nicht mehr stimmen. Meines Wissens ist die Zahl der HIV-Infektionen bei homosexuellen Männern ja zurückgegangen, während sie bei heterosexuellen gestiegen ist.

Wenn du drei Fakten über HIV in die Köpfe der Gesamtgesellschaft einpflanzen könntest, welche wären das?

Erst mal: Bei HIV-Positiven, die in Behandlung sind, ist die Infektionsgefahr in der Regel gleich null. Zweitens: Das Leben mit HIV ist unter medizinischen Gesichtspunkten überhaupt kein Stress, der Stress kommt durch Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Und als Drittes sollten wir uns klarmachen, dass HIV eine Zoonose ist. Genau wie Corona oder der Pest ist es ein Virus, das dadurch entstanden ist, dass Menschen in den Lebensraum von Tieren eingedrungen sind und ihn sich angeeignet haben. Wir sollten anfangen, mehr Energie in den Erhalt unserer Umwelt zu investieren, wenn wir nicht wollen, dass sich Infektionen wie diese auch in Zukunft entwickeln und ausbreiten.

Zitat
Ich sag´s dir: Ich bin positiv.

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