„Diese Ärztin war ein Fall für die Ärztekammer“

Sabine, 64, war schon in der Aids- Bewegung aktiv, bevor sie in den Achtzigern erfuhr, dass sie positiv ist. Im Laufe der Jahrzehnte hat sie viele persönliche und gesundheitliche Tiefschläge erlebt. Doch sie ließ sich nie unterkriegen. Stattdessen engagierte sie sich, sagte ihre Meinung und lancierte ihr öffentliches HIV-Coming-out in der TV-Talkshow von Johannes B. Kerner. Heute sieht Sabine sich als „Dinosaurier“ der Bewegung. Sie lässt sich von nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Ein Besuch bei einer Augenärztin in ihrer Heimat Berlin im Herbst 2021 haute sie dann aber doch um.

Eine Person mit dunklem Pferdeschwanz, schwarzem Kleid und weißer Jeansjacke steht mit verschränkten Armen vor einem Eingang eines Altbaus und lächelt in die Kamera.

Du lebst seit über 30 Jahren mit HIV und bist noch länger als Aktivistin im Einsatz. Warum machst Du nun bei der Kampagne zum Welt-Aids-Tag mit?

Es gab tatsächlich einen konkreten Auslöser. Im Herbst 2021 war ich am Auge erkrankt und brauchte dringend eine Creme. Es war aber Wochenende und mein Arzt hatte zu. Also bin ich zur einzigen Augenärztin gegangen, die bei mir in der Gegend offen hatte. Zunächst lief alles ganz normal – bis die Ärztin das Rezept schrieb. Da sah ich, dass im Sprechzimmer einen Apparat zum Abfotografieren des Augenhintergrunds gab. Das ist so ein Gerät, mit dem ich als Positive früher ganz oft zu tun hatte.

Aufgrund von Komplikationen in der Zeit, als es noch keine so wirksamen Medikamente gegen HIV gab wie heute?

Ja, ich bin ja schon lange dabei. Jedenfalls hab ich gesagt: „Ach, das ist ja toll, Sie haben einen Augenhintergrundapparat, dann kann ich ja auch zu Ihnen kommen, wenn mein Arzt mal hat nicht da ist. Ich bin nämlich HIV-positiv, da brauchen wir sowas manchmal.“ Ich hab mir überhaupt nichts dabei gedacht, ich lebe wirklich total selbstverständlich mit dem Virus. Aber die Ärztin erstarrte, rückte mit ihrem Rollsessel zwei Meter vom Tisch ab, sah mich empört an und legte los: „Wie bitte? Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst! Sie hätten meiner Kollegin vorher sagen müssen, dass Sie HIV-positiv sind!“ Ich war völlig perplex. So eine Reaktion hatte ich seit den Neunzigern nicht mehr erlebt.

Was war denn die Begründung, dass du vorher hättest Bescheid sagen müssen?

Das hab ich die Ärztin auch gefragt. „Wir haben doch kein Blut abgenommen“, hab ich gesagt, „außerdem bin ich sowieso unter der Nachweisgrenze, HIV ist bei mir also nicht übertragbar“. Da überlegte sie kurz, meinte aber dann: „Trotzdem hätten Sie meine Kollegin am Tresen fragen müssen, ob sie überhaupt bereit ist, mit Ihnen zu arbeiten.“ Das ist O-Ton. Im Jahr 2021. In Berlin. Das hat mich umgehauen. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch Ärzte gibt, die so unverschämt, unaufgeklärt und dumm reagieren.

Wie bist du mit der Situation umgegangen?

Ich war ziemlich bedient von dem unqualifizierten Gerede, deshalb hab ich nur gesagt: „Geben Sie mir einfach mein Rezept, dann sind wir fertig. Mich werden Sie hier nicht wiedersehen, aber vielleicht bekommen Sie demnächst was von der Ärztekammer zu hören.“ Dann bin ich raus aus der Praxis und seitdem auch nicht wieder hingegangen.

Und hast du den Vorfall der Ärztekammer gemeldet?

Nein, eben nicht. Danach war irgendwie eine Menge los. Es war mir immer zu viel Aufriss, die Sache weiterzuverfolgen. Aber innerlich arbeitete sie in mir. Vor allem, wenn ich mal wieder von anderen Positiven hörte, dass sie nicht wagen, sich bei ihren Ärzt*innen zu outen. Ich treffe in der aktivistischen Arbeit häufig Frauen, die in ländlicheren Gebieten wohnen, wo es keine große Auswahl an Praxen gibt. Viele von denen nehmen lange Anfahrtswege in die Großstadt auf sich, weil sie sich nicht trauen, ihren lokalen Ärzt*innen zu erzählen, dass sie positiv sind. Angesichts solcher Zustände hab ich mich irgendwann ein bisschen geärgert, dass ich keine Meldung bei der Ärztekammer gemacht habe oder wenigstens zum Beschwerde-Management der Aidshilfe gegangen bin. Aber dann dachte ich, es wäre eine gute Idee, die Geschichte hier in der Kampagne zu thematisieren. Damit erreicht man ja viele Menschen. Das wäre dann mein Beitrag gegen Diskriminierung.

Bei weitem nicht der erste. Du bist seit den Achtzigern in der HIV-Bewegung aktiv. Fragst du dich bei Vorfällen wie diesen, ob der aufklärerische Auftrag des Aktivismus sein Ziel verfehlt?

Nein, sowas bestärkt mich eher in der Annahme, dass Aktivismus immer noch nötig und wichtig ist. Auch das ist ein Grund, warum ich Lust hatte, bei der Kampagne mitzumachen. Noch mal zu thematisieren: Warum Aktivismus? Wozu brauchen wir ihn überhaupt noch? Und was müssen wir gegebenenfalls verändern, um uns weiterzuentwickeln?

Was bräuchte es denn? Mehr Wut?

Um Wut geht es mir persönlich schon lange nicht mehr. Das war früher. Ich bin 64, langzeitpositiv und gehöre zu den Alt-Aktivist*innen. Wir haben viel erlebt, da regt man sich nicht mehr so schnell auf. Aber Empörung spielt schon immer noch eine Rolle. Empörung über Menschen, die meinen, sie hätten mit HIV nichts zu tun und müssten sich nicht informieren, vor allem, wenn sie im Gesundheitswesen arbeiten. Innerhalb der Community müssen wir uns vor allem besser vernetzen, gegenseitig zuhören und offen sein für die Lebenswelten anderer. Es war immer ein Anspruch des HIV-Aktivismus gesellschaftspolitische Arbeit zu leisten und marginalisierten Gruppen zu Stärke zu verhelfen. Wir müssen uns um Frauen kümmern, um Migrant*innen, People of Colour, Trans*-Leute, um Menschen in der Stadt, auf dem Land, in Armut, und so weiter. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen.

Also forderst du mehr Solidarität und Zusammenhalt?

Ja, das lässt sich gut am Thema HIV und Frauen festmachen. HIV-positive Frauen haben keine Lobby. Nicht in der Gesellschaft und auch nicht wirklich in den Aidshilfen. Wenn man bedenkt, wie divers diese Zielgruppe ist, und dass weibliche Menschen ohnehin schon marginalisiert werden, müsste es viel mehr Unterstützung und Mittel für Aufklärungsarbeit in diesem Bereich geben. Stattdessen höre ich auch von schwulen Mitstreitern immer noch den Satz „Dann müsst ihr Frauen halt selbst den Hintern hochkriegen“. Bei sowas werde ich dann doch sauer. Je größer die Marginalisierung und je kleiner die Mittel desto mehr Verantwortung? Das kann nicht sein.

Was tun?

Ich werde demnächst versuchen, alle HIV-Aktivistinnen in Deutschland zusammenzubringen und zu gucken, wie wir uns besser aufstellen können. Da ist gerade viel Bewegung drin. Bei der Konferenz Positive Begegnungen im Juli hab ich Frauen aus afrikanischen Ländern getroffen, und auch einige sehr engagierte Ukrainerinnen. Die waren unheimlich offen und tatkräftig und hatten einen spürbaren Druck, etwas zu bewegen. Da dachte ich: Wow, das ist ja wie früher!

Wenn du drei Fakten über HIV in die Köpfe der Gesamtbevölkerung einpflanzen könntest, welche wären das?

Erstens: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen schmeißen. Denn wir sitzen alle im Glashaus. Meine vormals beste Freundin hat sich von mir abgewendet, nachdem sie erfahren hatte, dass ich positiv bin. Heute glaube ich, dass sie durch das Abbrechen des Kontakts nur ihre eigene Angst vor einer Infektion verdrängt hat. In weiten Teilen lässt sich diese Herangehensweise auf den generellen Umgang mit HIV in unserer Gesellschaft übertragen – dabei denke ich besonders an die heterosexuelle Männerwelt. Viele Männer tabuisieren HIV und weisen es weit von sich. Aber Verdrängung ist kein Schutz. Den bringen nur Offenheit und Aufklärung. Was direkt zum zweiten Fakt führt: HIV kann jeden treffen. Das sollten sich alle klarmachen, dann gibt es auch keine Gründe mehr, Positive zu diskriminieren. Und drittens: Wir können uns entspannen. Aufgescheuchte Reaktionen wie die von dieser Augenärztin sind einfach nicht mehr zeitgemäß. Zur Lösung von Problemen haben sie sowieso noch nie beigetragen.

Hast du einen Rat, wie Menschen im Gesundheitswesen erreicht werden können?

Ich denke, Sensibilisierung muss von oben angestoßen und eingefordert werden. Von Gremien, der Kassenärztlichen Vereinigung, von Klinikleitungen, Praxen und so weiter. Meinen Beobachtungen zufolge ist das Problem oft, dass Mediziner*innen im beruflichen Alltagstrott die Neugier und den Weitblick verlieren. Auf einem Kongress hab ich mal junge Studenten erlebt, alles Männer in dem Fall, die waren total offen und wissbegierig, stellten Fragen, kannten sich auch relativ gut mit dem aktuellen Stand der HIV-Forschung aus. Wenn junge Menschen aber erst mal in die Mühlen der Krankenhaushierarchien geraten, kommen das Interesse und die individuelle Betrachtung der Patient*innen oft abhanden. Das ist gefährlich, weil es zu Fehlbehandlungen und zu Diskriminierung aus Ignoranz führen kann.

Wie lässt es sich verhindern?

Letztlich muss HIV schon in medizinischen Ausbildungen als selbstverständlicher Bestandteil des Gesundheitswissens vermittelt und demzufolge auch bei allen Studienprogrammen mitgedacht werden. Und Praxen können das Gütesiegel „Praxis Vielfalt“ erwerben, das die Deutsche Aidshilfe und Aktivist*innen vor einigen Jahren ins Leben gerufen haben. Das muss natürlich auch immer wieder upgedated werden.

Klingt nicht so, als gäbe es in naher Zukunft viel Zeit für dich, um die Hände in den Schoß zu legen. Kannst du dir trotzdem einen Feierabend vom Aktivismus vorstellen?

Oh, dafür fällt mir ganz viel ein. Ich öffne mich da auch gerade zunehmend und verbringe mehr Zeit mit HIV-negativen Bekannten außerhalb der Blase der HIV-Community, in der ich mich über die Jahre eingerichtet habe. Diese Verlagerung ist manchmal ungewohnt, aber interessant. Ausgleich ist ja wichtig. Die Treffen einer neuen Frauengruppe, die ich vor Kurzem mitgegründet habe, teilen wir zum Beispiel auf in einen Abschnitt, wo wir uns mit schweren Themen beschäftigen, und einer Aktivität, die Leichtigkeit reinbringt. Ich werde mich bestimmt immer für Dinge einsetzen, die mir wichtig erscheinen. So ticke ich nun mal. Gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit und für marginalisierte Gruppen muss ich mich stark machen. Ein Arzt hat mir mal gesagt: „Sabine, du bist so renitent!“Andere hätten das vielleicht als Kritik empfunden, aber ich sehe Renitenz als Ausdruck einer Eigenverantwortlichkeit, die ich für HIV-Patient*innen ganz wesentlich finde. Für mich ist „renitent“ ein Kompliment.

Zitat
Berührungsängste? Da fasse ich niemanden mit Samthandschuhen an!

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