„Wer hätte gedacht, dass ich noch Fotomodell werde?“

Ihr Bild in der Öffentlichkeit: Darauf freut sich Hildegard. Als sie völlig unerwartet die HIV-Diagnose traf, hatte sie Angst. Wie würden Freunde und Bekannte reagieren? Und würde sie jemals wieder einen Partner finden? Gerüchte in ihrem kleinen bayerischen Heimatort begegnete sie mit offenen Worten – und machte positive Erfahrungen. Im Interview erzählt die 47-jährige Postbotin, wie sie erst ihre Eltern und dann ihren Friseur beruhigte, warum Frauen mit HIV es besonders schwer haben – und warum sie sich jetzt allen zeigt.

Eine Person mit langen roten Haaren, hellblau-rot gemusterten Shirt und dunklen Jeans steht vor einem Waldweg und lacht in die Kamera.

Hildegard, zum Welt-Aids-Tag erzählst du ganz Deutschland, dass du HIV-positiv bist. Was motiviert dich, damit so prominent in die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich will Schluss machen mit Halbwahrheiten, die überall zum Thema HIV durch die Gegend schwirren. Schon seit 10 Jahren habe ich so ein öffentliches Coming-out im Kopf. Aber ich wollte erst warten, bis mein Kind erwachsen ist und mir das Okay gibt. Und ich wollte selber erstmal mein Leben mit HIV auf die Reihe kriegen.

Wie fühlst sich das jetzt an?

Ich bin natürlich auch ein bisschen nervös. (Lacht) Aber wer hätte gedacht, dass ich mit über 40 Jahren noch ein Fotomodell werde?

Wann hast du selbst von deiner HIV-Infektion erfahren?

Meine Diagnose bekam ich im Jahr 2013. Ich hatte damals ungewöhnliche blaue Flecken an den Armen bekommen, schon nach kleineren Berührungen. Meine Hausärztin nahm mir Blut ab. Schon am nächsten Tag rief sie an und sagte: „Irgendwas stimmt hier nicht.“ Ich habe meine Koffer gepackt und bin ins Krankenhaus gefahren. Zuerst dachten die Ärzte, es könnte sich um Krebs handeln, Leukämie zum Beispiel. Auf HIV wurde eigentlich nur getestet, um eine Infektion auszuschließen. Aber ausgerechnet dieser Test kam positiv zurück. Seither sage ich immer: „Ich bin positiv. Und das habe ich schriftlich vom Arzt.“

Wie war das für dich, als du Diagnose erhalten hast?

Während ich noch im Krankenhaus war, haben auch mein Kind und mein damaliger Partner einen Test gemacht. Zum Glück waren beide Ergebnisse negativ. Da war ich sehr erleichtert. Dann dachte ich: Da bin ich ja nochmal mit einem blauen Auge davongekommen. Denn die anderen Krankheiten, die in Frage kamen, verlaufen schwerwiegender und sind gefährlicher als HIV. Aber was die Diagnose für mich bedeutete, das musste ich erst lernen und herausfinden.

Hast du deiner Familie direkt von der Diagnose erzählt?

Die haben es einfach mitbekommen, weil ich recht lange im Krankenhaus war und sie mich dort regelmäßig besucht haben.

Wusste deine Familie, dass sich HIV mit Medikamenten sehr gut behandeln lässt?

Mit HIV ist es wie mit anderen Krankheiten: Viele Leute haben dieses und jenes gehört. Aber so richtig beschäftigt man sich damit erst, wenn man selbst oder Menschen im engen Umfeld betroffen sind. Ich wollte meinen Eltern die Angst nehmen, und habe ihnen gemeinsam mit meinem Arzt alles erklärt: „Ich bekomme Medikamente. Macht euch keine Sorgen, das ist alles nicht so schlimm.“ Die sehr gute medizinische Versorgung hat meine Eltern beruhigt.

Wie war das bei Freundinnen und Freunden? Hast du dich ihnen gegenüber auch offenbart?

Ich habe erst einmal ein wenig abgewartet, aber dann relativ schnell davon erzählt. Ich kann mit solch einem Geheimnis nicht gut leben. Das schnürt mir die Luft ab. Die meisten Reaktionen waren sehr positiv. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand total schlecht reagiert hätte. Natürlich, es braucht ab und zu erstmal Zeit, das sacken zu lassen. Zwei Wochen später habe ich mit vielen dann noch einmal darüber gesprochen. Sie haben sich erst nicht getraut, Fragen zu stellen. Als sie mitbekommen haben, dass es ok ist, etwas nicht zu wissen, kamen wir richtig ins Gespräch.

Was für Fragen waren das beispielsweise?

Ein wichtiges Thema war die Frage, ob eine Ansteckungsgefahr bestand. Vor meiner Infektion kannte ich mich da auch nicht aus. Es ist aber so: HIV ist unter Therapie nicht übertragbar. Das ist für mich eine wichtige Botschaft. Die meisten Leute wissen das noch nicht.

Hattest du befürchtet, dass deine Freunde auch anders reagieren könnten?

Ja, mir war manchmal angst und bange. Vor allem hatte ich Sorge, dass Gerüchte die Runde machen könnten. Ich wohne in einem relativ kleinen Ort in der Nähe von Passau. Wenn hinter dem Rücken von Leuten getuschelt wird, reden alle mit, aber niemand kennt sich aus. Deshalb war mir wichtig, selbst das Gespräch zu suchen. Mir konnten alle selbst ihre Fragen stellen.

Gab es denn auch Gerüchte über dich?

Die Gerüchteküche kochte. Ich bin dem durch Aufklärung entgegengetreten. Wenn du nichts tust, kocht die Gerüchtesuppe immer höher. Ich musste den Deckel wegnehmen und erklären. Viele haben verstanden: Eine HIV-Infektion ist gar nicht so schlimm. So hat sich alles wieder beruhigt.

Du hast dann im Ort ganz offen über deine Infektion gesprochen?

Ja, zum Beispiel bei meinem Frisör.

Was ist da passiert?

Er hat gefragt, ob ich HIV-positiv bin. Das hatte er irgendwo aufgeschnappt. Ich habe das bestätigt. Er hatte dann Angst, dass er sich infizieren könnte. Er sagte: „Was, wenn ich dir ins Ohr schneide? “ Ich habe ihm gesagt: Als Frisör darfst du mir nicht ins Ohr schneiden! (lacht) Dann habe ich ihm erklärt, dass durch meine HIV-Medikamente das Virus in meinem Blut nicht mehr nachweisbar ist und deshalb keine Übertragung mehr stattfinden kann. Das hat ihn sehr beruhigt. Ich bin immer noch bei dem Friseur, und die Berührungsängste sind verschwunden.

Ist es in kleineren Orten im Vergleich zur Großstadt einfacher oder schwieriger über HIV zu sprechen?

In kleineren Orten trauen sich nur wenige, ihre Infektion öffentlich zu machen und dazu zu stehen. Das braucht schon Mut. Und ich will mit meiner Teilnahme an dieser Kampagne Mut machen. Ich will auch verdeutlichen, dass sich niemand schuldig fühlen muss. Falls mich jetzt doch irgendjemand verurteilen möchte, dann ist das eben so. Ich kann es nicht ändern.

Wie ist das mit der ärztlichen Versorgung: Konntest du mit deinen Ärztinnen und Ärzten offen sprechen?

Mein Schwerpunktarzt ist in Regensburg. Zweimal im Jahr kommt er nach Passau, so dass ich hier vor Ort einen Termin machen kann. Das ist ein super Service. Meine Hausärztin war weiterhin sehr freundlich. Sie hat mich gut behandelt und Fragen gestellt. Sie gab ganz offen zu, nicht alles zu wissen und war offen für Neues. Das fand ich toll.

Wie bist du dann selbst weiter mit deiner Diagnose umgegangen?

Mir war wichtig, andere Menschen mit HIV kennenzulernen. In einer Beratungsstelle in Passau habe ich nachgefragt, ob die jemanden kennen. Und tatsächlich gab es eine Selbsthilfegruppe. Sie war klein, und es gab kein spezielles Angebot für Frauen oder Heterosexuelle. Aber wir alle waren froh, dass es überhaupt eine Gruppe gab. Sie hat mir unwahrscheinlich geholfen.

Warum hat dir das so gutgetan?

Weil ich dort Leute kennengelernt habe, die schon seit 20 oder 30 Jahren mit ihrer Infektion nicht nur leben, sondern gut leben. Die haben mir Ruhe und Gelassenheit vermittelt. Und sie haben gesagt: Du hast deinen Schwerpunkt-Arzt, einen guten Ansprechpartner. Du hast Zugang zu sehr guten Vorsorgeuntersuchungen. In jedem Schlechten kann man auch noch etwas Gutes finden.

Wie hast du schließlich andere HIV-positive Frauen kennenlernen können?

In der Akademie Waldschlösschen gibt es viele Angebote für HIV-Positive, auch für Frauen. Ich war erst skeptisch: Das Waldschlösschen ist bei Göttingen, also relativ weit weg. Ich konnte mir zunächst auch nicht vorstellen, wie es dort sein würde. Dann habe ich mir einen Ruck gegeben und bin doch zu einem Treffen dort gefahren – und anschließend noch zwei weitere Male. Diese Treffen geben immer eine unglaubliche Inspiration und Power!

Warum sind diese Treffen so inspirierend?

Es gibt dort ein Gefühl der Verbundenheit. Ich fühle mich dort angenommen und aufgehoben. Und ich konnte über Erfahrungen und auch Ängste sprechen. Zum Beispiel: Wie ist es, wenn man als Frau HIV-positiv ist und solo? Wie funktioniert das mit der Partnersuche? Ich habe immer befürchtet: Wenn ich jemandem kennenlerne und ihm sage, dass ich HIV-positiv bin, dann ist der gleich wieder weg. Im Waldschlösschen habe ich auch Frauen kennengelernt, die nach ihrer Infektion einen neuen Partner gefunden und wieder eine glückliche Beziehung geführt haben. Das hat mir Mut gemacht.

Lange Zeit galt als Infektion, die vor allem schwule Männer trifft. Gibt es für HIV-positive Frauen besondere Herausforderungen?

HIV-positive Frauen werden immer noch in die Schmuddelecke gestellt. Selbst die brave, treue Hausfrau, die HIV vielleicht von ihrem Mann hat, der sich im Urlaub infiziert hat. Der Mann wird freigesprochen, sie schuldig. Es gibt deshalb nach wie vor nur sehr wenige Frauen, die zu ihrer Infektion stehen und auch die Angebote wahrnehmen.

Welches Wissen über HIV sollten deiner Meinung nach in der Gesellschaft stärker bekannt sein?

Es ist auch als Hetero wichtig, ab und zu mal einen HIV-Test zu machen. Ich selbst hatte mich überhaupt nicht als gefährdet eingestuft. Als ich dann im Krankenhaus lag, waren meine Blutwerte schon sehr schlecht. Ich muss schon seit Jahren unbemerkt HIV-positiv gewesen sein. Eine HIV-Infektion ist nichts, was man sicher ausschließen kann. Wer unbemerkt HIV-positiv ist, kann aus Versehen seine Partner anstecken. Wer einen Test macht und im Fall der Fälle eine Therapie beginnt, ist auf der sicheren Seite.

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