„Ich habe viel Glück gehabt“

Kristina (36) kam kurz vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland – und blieb. Ehemals sexsüchtig, bot ihre HIV-Infektion ihr eine Gelegenheit, sich neu mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen. Heute ist sie selbst Sexualtherapeutin und Veranstalterin von Kuschel-Events. Sie möchte Menschen ermöglichen, ihre Bedürfnisse auszuloten und sich für nichts zu schämen. Denn sie weiß: Stigmatisierung richtet viel Schaden an.

Eine Person mit kurzen blonden Haaren, weißem T-Shirt und langem rosa Cardigan sowie hellblauen Jeans sitzt auf einem Sofa mit bunten Kissen und lächelt in die Kamera.

Kristina, was sind denn Kuschel-Events?

Das sind Events, zu denen Menschen kommen, um im wahrsten Sinne des Wortes miteinander zu kuscheln. Ich kreiere einen geschützten Raum, in dem die Teilnehmenden körperliche und emotionale Grenzen erforschen – ihre eigenen und die anderer. Sie können dort herausfinden, was sie wollen, was sich für sie gut anfühlt. Sie können andere bitten, genau das mit ihnen zu machen. Und sie geben anderen Menschen Raum, das gleiche zu tun.

Und warum funktioniert das übers Kuscheln?

Kuscheln ist eine schöne Form, den eigenen Körper wieder zu erfahren und Verbindungen herzustellen, die uns im Alltag oft verstellt sind. Meine Events können wunderbare Lernerfahrungen für Menschen sein, die ihren eigenen Körper und dessen Bedürfnisse nicht wirklich spüren können. Die können lernen, was sie wirklich wollen. Das kann sich positiv auf das gesamte Leben auswirken.

Ist das dein Beruf?

Die ersten zwölf Jahre meines Berufslebens war ich Journalistin und Drehbuchautorin. Aber in den letzten drei Jahren sind die Kuschel-Events mein Beruf geworden. Ich organisiere sie hier in Berlin und einigen anderen europäischen Orten. Hierhergekommen bin ich kurz vor Kriegsbeginn und saß dann erstmal zehn Monate rum, hatte viel mit dem Jobcenter zu tun. Dabei habe ich ein Stück meiner Identität verloren. Ich will mit meinem Leben etwas Wichtiges tun. Nur irgendeinen Job zu machen, um einen Job zu haben, würde mich depressiv machen. Also habe ich langsam angefangen, Trainings zum Thema Sexualität und die Kuschel-Events anzubieten. Ich bin gut darin und habe das Gefühl, ich kann Menschen wirklich helfen.

Wie wird man denn Kuschel-Expertin?

Seit ich 18 war, habe ich mich sehr für Sex interessiert. Eines Tages stellte ich fest, dass ich sexsüchtig war. Ich habe mir Hilfe gesucht, wollte aber während der Therapie nicht auf Sex verzichten. Sex macht mir einfach großen Spaß und ich schäme mich nicht dafür. Also habe ich dem Universum gesagt, dass ich etwas brauche, um mich auf eine neue Weise mit meiner Sexualität auseinanderzusetzen. Zwei Wochen später war mein HIV-Test positiv. Das war natürlich nicht das, was ich gewollt hatte, aber letztlich war es gut für mich.

Wie kam es dazu?

Ich arbeitete zu der Zeit als Journalistin an einem interaktiven Projekt zum Thema HIV. Alle im Team waren wie Medizinstudierende im ersten Semester: Jedes Mal, wenn du von einem neuen Symptom hörst, guckst du erstmal, ob du es selbst hast. Ich hatte vier Wochen vorher ungeschützten Sex gehabt. Jetzt hatte ich Halsschmerzen, Ausschlag und fünf meiner Lymphknoten waren angeschwollen. Der Arzt, mit dem wir arbeiteten, sagte: „Lass das mal besser überprüfen.“

Und das hast du getan?

Ich habe noch einen Monat gewartet. Dann hat meine Ärztin viele Tests gemacht – nur keinen HIV-Test. Dafür hätte ich damals in der Ukraine in eine Spezial-Klinik gemusst, die weit weg war. Das wollte ich nicht, denn ich wusste eigentlich längst, was Sache war. Alle anderen Tests waren ohne Befund. Schließlich habe ich dann in dieser Klinik einen Schnelltest gemacht – und der war positiv.

Das war dann sicher nicht einfach für dich.

Ich hatte großes Glück: Durch mein Projekt wusste ich schon, dass ich unter Therapie ein ganz normales Leben würde führen können und dass es mir sehr wahrscheinlich weiter gut gehen würde. Andere haben dieses Glück nicht, denn die allgemeine Informationslage zum Thema HIV in der Ukraine ist schlecht.

Hast du mit anderen Menschen über deine Infektion gesprochen?

Die meisten Menschen mit HIV in der Ukraine erzählen anderen lieber nichts davon. Sie wissen, dass viele Leute dann Angst vor ihnen haben würden. Diese Angst basiert auf Unwissenheit. Dagegen können wir zum Glück etwas tun: Menschen informieren. Als ich das im privaten Rahmen gemacht habe, fragten viele, warum ihnen das alles niemand früher gesagt habe. Also habe ich mich auf Facebook und Instagram geoutet und dazu eingeladen, mir Fragen zu stellen. Das hat mein Leben massiv verändert.

Wie denn?

Im Dialog über HIV habe ich auch unglaublich viel über mich selbst gelernt. Begleitet durch Therapie und den ernsthaften Willen, wirklich an mir zu arbeiten, habe ich langsam verstanden, was guter Sex für mich ist. Nicht auf einem banalen technischen Level, sondern viel tiefer: Was genau will ich? Wie will ich mich dabei fühlen? Was soll dabei in meinem Kopf passieren? Ich habe verstanden, dass ich – wie viele andere Menschen – oft Sex hatte, obwohl ich eigentlich nur berührt, gesehen, wahrgenommen werden wollte. Ich wollte Nähe spüren.

Wie kommt man von dieser Erkenntnis dahin, Kuschel-Events zu veranstalten?

Die ersten Kuschel-Events gab es schon in den 1970ern in den USA. Eine Freundin von mir fing damit in Kiew an. Ich ging hin und fand es super. Wir haben dann zusammen Events mit über 40 Menschen gemacht, später habe ich dann auch alleine welche organisiert. Ich bin auch jetzt noch ab und an in Kiew. Dann schreibe ich in den sozialen Medien: „Leute, in einer Woche bin ich in der Stadt, wollt ihr kommen?“ Dann habe ich immer sofort 25 oder mehr Teilnehmende.

Und alle wissen, dass du HIV-positiv bist?

Klar, das erfahren sie aus meinen Social-Media-Profilen. Es war noch nie ein Problem. Diese Events sind oft wahnsinnig intensive Momente. Menschen weinen und wollen in den Arm genommen werden. Menschen kommen, um sich selbst wieder zu spüren, um ihre Emotionen irgendwo zu lassen.

Es ist sicher nicht immer leicht, mit starken Gefühlen anderer umzugehen?

Ich habe in den letzten sieben Jahren viel für meine eigene innere Stabilität getan und an meiner Fähigkeit gearbeitet, wirklich Mitgefühl mit Menschen zu haben. Ohne diese beiden Dinge kann man diese Events nicht machen. Menschen lassen in diesen Events ein Stück weit ihre Selbstkontrolle los. Deswegen muss jemand da sein, der die Situation unter Kontrolle hat, und sie auffängt, wenn sie das brauchen. Wenn ich meine eigenen Emotionen ernst nehme und gut zu mir selbst bin, kann ich das auch mit anderen Menschen tun.

Wie geht‘ jetzt für dich weiter?

Ich arbeite gerade an einem sehr spannenden Projekt. Vor einigen Monaten wollte eine Teilnehmerin nicht zu einem Event kommen, weil sie einen Lippenherpes hatte. Sie hatte Angst, sich beim Kuscheln nicht wohlzufühlen oder abgelehnt zu werden. Ich habe sie ermutigt zu kommen, denn wir küssen uns bei den Events ja nicht. Sie kam und hatte eine gute Zeit. Darüber habe ich lange nachdenken müssen. Wie ist es für Menschen, sich für etwas an ihren Körpern zu schämen? Und was kann man dagegen tun? Wie geht man mit diesem Selbststigma um?

Das hat Ähnlichkeit mit der verinnerlichten Stigmatisierung wegen HIV. Was für ein Projekt planst du?

In der Ukraine gibt es gerade viele Soldat*innen, die mit beschädigten Körpern aus dem Krieg kommen, Gliedmaßen verloren haben, mit Wunden oder Narben werden weiterleben müssen. Ich bin gerade in Gesprächen darüber, Körperarbeitsseminare und Kuschel-Events für diese Menschen zu organisieren. Und darauf freue ich mich sehr.

Du willst nicht über den Krieg sprechen, aber wir würden gern wissen, ob die HIV-positiven Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland gut medizinisch versorgt werden.

Generell kann ich das bejahen. Es gibt inzwischen auch einen Verbund HIV-positiver Ukrainer*innen, PlusUkrDe. Freiwillige helfen gemeinsam mit den örtlichen Aidshilfen dabei, dass Menschen die passende medizinische Versorgung finden. Aufgrund von Stigmatisierung haben allerdings viele solche Angst davor, überhaupt über das Thema zu sprechen, dass sie uns als Organisation vielleicht gar nicht finden. Viele landen auch erstmal in kleineren Orten, wo sie noch größere Angst vor Stigmatisierung haben und wo es keine Angebote für Menschen mit HIV gibt.

Wie ging es dir denn selbst nach deiner Ankunft hier?

Ich hatte wieder mal unfassbares Glück. Ich lebe in Brandenburg, sozusagen am Rand eines kleinen Dorfes, am Rand einer kleinen Stadt, am Stadtrand von Berlin. Die Familie, die mich und meine Tochter aufgenommen hat, hatte keinerlei Berührungsängste, weil die Mutter Krankenschwester ist. Mein HIV-Status war kein Problem, auch, weil ich sofort angeboten habe, alle Fragen zu beantworten. Ich habe mich sofort unterstützt und zuhause gefühlt.

Was hat das für dich bedeutet?

Die Familie, in der ich aufgewachsen bin, war nicht so. Es war eine neue Erfahrung für mich, von Menschen umgeben zu sein, die mir sagten: „Es ist toll, dass du da bist. Lass dir Zeit, du kannst hierbleiben, solange du willst. Wir helfen dir mit allem, bei dem du Hilfe brauchst.“ Und das haben sie wirklich so gemeint und getan. Ich bin ihnen unendlich dankbar.

War es schwierig für dich, direkt nach deiner Ankunft in Deutschland, einen Arzt zu finden, oder an deine Medikamente zu kommen?

Mein erster Besuch in der EU war die Welt-Aids-Konferenz 2018 in Amsterdam. Dort hatte ich Kontakte geknüpft, die mir sehr geholfen haben. Ich hatte Leute in Berlin, die mir mit all dem helfen konnten. Ich habe dann wiederum mit anderen Freiwilligen ein bisschen dabei mitgeholfen, Menschen in der Ukraine zu versorgen, als es notwendig war, zum Beispiel mit Medikamenten.

Wie ist denn die Situation bei HIV in der Ukraine angesichts des Krieges?

Die Versorgung von HIV-positiven Menschen ist jetzt insgesamt okay. Das Problem ist, dass sich zu wenige Menschen testen. Wegen der starken Stigmatisierung ist der Anteil derjenigen, die mit HIV leben, ohne davon zu wissen, höher als in Deutschland. Ich versuche mit Veranstaltungen zu HIV vor Ort darauf hinzuarbeiten, dass sich mehr Menschen testen, gerade Frauen, die in der Ukraine viel stärker von HIV betroffen sind als hier. Gerade deswegen bin ich so froh darüber, dieses Jahr in dieser Kampagne dabei zu sein.

Wie geht deine Tochter mit deiner Infektion um?

Sie ist jetzt zehn und kennt es gar nicht anders. Das ist ihre Normalität. Was lustige Auswüchse haben kann. Einmal hat sie einen Bericht darüber gesehen, dass einige wenige Menschen unter enormem Aufwand und Gefahr für ihr Leben von HIV geheilt worden sind (LINK AUF ERKLÄRUNG). Da ist sie zu mir gekommen und wollte wissen, ob mir das auch „passieren“ könnte. Sie war beunruhigt, weil ich ohne HIV, ihrer Meinung nach, doch viel langweiliger wäre. Ich konnte sie da beruhigen (lacht).

Teile die Infos zum Welt-Aids-Tag!